Wie kommt es, dass ehemals zivilisierte, demokratische Völker sich massakrieren wie im tiefsten Mittelalter? Auge um Auge, Zahn um Zahn? Eine Antwort darauf erhalten die Waldorfschüler im Deutschunterricht der zehnten Jahrgangsstufe, wo das Hildebrandslied Vater und Sohn im Krieg als Feldherren gegnerischer Heere aufeinandertreffen lässt, wo im Nibelungenlied die Helden im eigenen Blut ersaufen. Und sie erkennen, wie weit man in die Menschheitsgeschichte zurückgehen muss, um wirklich eine Antwort auf die Fragen unserer Zeit zu erhalten.

Literatur als Umweg

Hinter all dem Wir steht für den modernen Menschen natürlich die Frage nach dem Ich, nach der Individualität - und weil besonders Jugendliche Angst davor haben, dass man ihre verwundbare Stelle aufspürt, reden die Schüler darüber nicht direkt, sondern über den „Umweg" der Literatur: Schillers Don Carlos und Christian aus der Novelle Der Verbrecher aus verlorener Ehre, Siegfried aus dem Nibelungenlied, Parzival aus dem mittelhochdeutschen Entwicklungsroman von Wolfram von Eschenbach und schließlich Faust aus Goethes gleichnamiger Tragödie: Wie kommt ein hochintelligenter Mensch dazu, eine Frau, die er liebt, ins Verderben zu stürzen: „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?" – wie ein Georg Büchner seinen Woyzeck fragen lassen wird.

Zeit lassen

In der Waldorfschule wird jeder Schüler, mit diesen äußerst anspruchsvollen Schriften konfrontiert, egal ob er die Schule mit dem Hauptschul-, dem Realschul-, dem erweiterten Realschul-Abschluss, der Fachhochschulreife oder mit dem Abitur verlässt. Für die Entwicklung vom Pubertierenden zum Erwachsenen lässt die Waldorfschule den jungen Menschen Zeit, zwölf Jahre lang Zeit. Und sie lässt ihnen jeden Tag Zeit: Über dreieinhalb bis vier Wochen wird im Epochenunterricht jeden Morgen fast zwei Stunden lang meditiert, deklamiert, diskutiert und analysiert. Der Unterricht beginnt mit einer Ruhephase, einer Zeit der inneren Sammlung, indem der Morgenspruch gesprochen und im Anschluss ein Gedicht deklamiert wird.

Ganzheitlicher Ansatz

Daran schließt sich ein Unterrichtsgespräch an, d.h. man setzt sich mit dem am Vortage in der Stillarbeitsphase erarbeiteten Wissensstoff auseinander. Die Schüler fragen sich in der Deutschepoche, was die verwundbare Stelle in Siegfrieds Rücken bedeutet, wie man dieses Bild ins Allgemeingültige übertragen kann, fragen auf dem Hintergrund der erarbeiteten Fakten nach den historischen Zusammenhängen von Gefolgschaft, Schicksalsgläubigkeit und Fatalismus.

Wenn in unserer Welt immer häufiger Ganzheitlichkeit und Entschleunigung gefordert wird, wenn Lernen laut Hirnwissenschaften nur dann nachhaltig funktioniert, wenn es mit Gefühlen kombiniert ist, dann sind wir mit unseren Schülern seit gut neunzig Jahren auf dem richtigen Weg.

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